wiwo.de vom 24.03.2022 / service

Kaluga, Tuscaloosa, Grünheide 

Drei Werke zeigen die Zukunft der Autoindustrie

Dem Anlass angemessen präsentierte sich Martin Winterkorn als guter Russe. "Wir verstehen uns als einheimischer Hersteller", verkündete der damals amtierende VW-Chef, als Präsident Wladimir Putin 2009 das Werk des deutschen Autobauers in Kaluga, 170 Kilometer südwestlich von Moskau, besuchte. Der Staatschef nahm den Ball gerne auf, baute sich vor einem schwarzen Volkswagen-SUV auf und schwadronierte über die "vaterländische Produktion". Für den Autobauer aus Wolfsburg, der auch brav mit dem russischen Hersteller GAZ kooperierte, zahlte sich der Schmusekurs aus. Der Kreml machte für VW üppige Fördermittel locker. So lief das Spiel damals.

Seit dem 24. Februar ist es vorbei. VW hat nach dem Angriff auf die Ukraine sämtliche Geschäfte in Russland eingestellt, die Produktion in Kaluga angehalten und viele Mitarbeiter aus der Ukraine und Russland in Nacht- und Nebelaktionen evakuiert. Die russische Regierung droht damit, auf den Rückzug westlicher Firmen mit Enteignung zu regieren. Sollte es so kommen, könnte das Werk Kaluga bald tatsächlich sein, was es bislang nur vorgab: russisch. Wären damit die gut zwei Milliarden Euro verloren, die VW in Russland investiert hat? Versenkt hinter einem neuen Eisernen Vorhang? VW-Manager, die noch in Russland ausharren, äußern sich dazu nicht. Es sei gefährlich, mit dem "feindlichen Deutschland" zu sprechen, erklärt ein Deutscher, der versucht, den Kontakt nach Kaluga aufrechtzuerhalten.

Das russische VW-Werk ist ein Standort, der derzeit sinnbildlich dafür steht, dass Deutschlands wichtigste Industrie derzeit entscheidende Tage durchlebt - wieder einmal. Es ist nicht der einzige. In Grünheide in Brandenburg will der US-Hersteller Tesla in wenigen Tagen sein neues Werk in Betrieb nehmen. Der US-Autobauer will in Deutschland künftig Technologien fertigen, um die ihn heimische Hersteller beneiden. Dabei setzt er teilweise auf Methoden, die die Produktionsexperten bei VW, BMW und Mercedes alt aussehen lassen.

Dabei sind die deutschen Hersteller keineswegs passiv. Sie stecken mittlerweile zweistellige Milliardensummen in neue E-Autos - und stoßen dabei mutig in die Tesla-Heimat vor. Gerade hat Mercedes im US-Bundesstaat Alabama eine neue Fabrik für E-Auto-Batterien eröffnet. Das Unternehmen, dessen Gründer einst das Verbrennerauto erfand, eifert also Tesla nach.

Was auf die deutschen Hersteller zukommt, wie sie diese Probleme angehen, das zeigen drei Nahaufnahmen.

Kaluga: Plötzlich feindlich

Wer in diesen Tagen mit VW-Managern spricht, merkt, dass sie die neue Welt noch kaum begreifen können. Die Nähe zu Russland und dessen Präsidenten war seit Jahrzehnten Konzernlinie, daran änderte auch die Annexion der Krim im Jahr 2014 nichts. An dem großen Tisch im Kreml, an dem Putin zuletzt Gesprächspartner demonstrativ auf Distanz hielt, haben auch schon Chefs des deutschen Autobauers Platz genommen. Der damalige Vorstandsvorsitzende Matthias Müller etwa erklärte hier im Februar 2017, dass Volkswagen "der russischen Seite Unterstützung bieten" wolle, damit sich "unsere Beziehungen erfolgreich entwickeln" könnten.

Sein heute amtierender Nachfolger Herbert Diess soll gut zwei Jahre später an gleicher Stelle zwei Wünsche geäußert haben. Die staatlichen Hilfen für die VW-Aktivitäten in Russland soll Putin schnell abgenickt haben. Der zweite Wunsch war kniffliger: VW wurde indirekt von Sanktionen getroffen, die die USA gegen den Oligarchen Oleg Deripaska verhängt hatten. Da diesem der VW-Partner GAZ gehört, bedrohten die Sanktionen auch die Produktion in Russland. Als mögliche Lösung soll Diess vorgeschlagen haben, dass Deripaska die Kontrolle über GAZ aufgibt. Sogar ein Einstieg von VW soll im Raum gestanden haben. Putins Reaktion auf das Ansinnen ist unbekannt. Wirklich begeistern konnte er sich für den Plan wohl nicht, denn GAZ gehört bis heute Deripaska.

Komplett zuschlagen will das Management in Wolfsburg die Tür nach Russland nicht. Die rund 4000 Mitarbeiter in Kaluga hat der Konzern deshalb nicht einfach ohne Lohn nach Hause geschickt. Offiziell pausiert der Betrieb nur, die Beschäftigten erhalten Kurzarbeitergeld. Das soll es Putin wohl auch erschweren, die Fabrik als aufgegeben darzustellen und zu verstaatlichen.

Intern, so berichten Mitarbeiter, habe das Management den Stillstand der Bänder in Kaluga mit den Worten der russischen Regierung begründet. Aufgrund "spezieller Militäroperationen", so habe es geheißen, sei der Betrieb nicht mehr möglich. Dabei ist offen, ob das Werk überhaupt hätte weiterlaufen können. In Kaluga würden die Kabelbäume ukrainischer Zulieferer ebenso fehlen wie in etlichen deutschen Werken, wo der Mangel bereits zu Produktionsausfällen geführt hat. Die Kabelbäume würden einzeln und recht voluminös in Kisten verpackt, sagt ein Manager. "Es ist aufwendig, große Volumina durch umkämpftes Gebiet zu transportieren", sagt er - und klingt wie ein Offizier.

Grünheide: Neuer Antrieb

Ende 2019 hat Elon Musk es angekündigt, gut zwei Jahre später soll es loslegen. Wenn das Werk in Grünheide in diesen Tagen tatsächlich seinen Betrieb aufnimmt, ist dem Tesla-Chef etwas gelungen, was ihm kaum jemand in der deutschen Autoindustrie zugetraut hätte. Dabei hat Musk in Sachen Tempo Maßstäbe gesetzt - und damit schon jetzt Teile der deutschen Industrie zu neuen Höchstleistungen motiviert.

In Grünheide, sagt Jan-Philipp Büchler vom Fachbereich Wirtschaft der Fachhochschule Dortmund, habe Tesla eine Vielzahl neuer Prozesse, hochautomatisierter Maschinen und Anlagen sowie innovatives Material im Einsatz. Oft habe der US-Autobauer dies alles mit heimischen Zulieferern entwickelt, teilweise sollen die
Partner sogar gemeinsam Patente anmelden. Mit dem Zulieferer Saueressig und weiteren Partnern soll Tesla Büchler zufolge einen neuen Produktionsprozess für Kathoden entwickelt haben, der den Einsatz umweltschädlicher Chemikalien reduziert und die Thermik verbessert. Das Auto lädt dadurch schneller und fährt mit einer Ladung weiter. "Tesla treibt seine Lieferanten zur Höchstleistung an - das wirkt auch auf den Standort Deutschland sehr positiv", sagt Büchler.

"In Brandenburg wird die Autoindustrie neu erfunden"

Das sieht man auch beim Zulieferer Kamax so. Das Unternehmen hat sich auf hochfeste Verbindungselemente und komplexe Formteile spezialisiert. Tesla, sagt Technikchef Stefan Wallmeier, sei flexibel und offen. So habe das Unternehmen sehr positiv auf eine neue Schraube reagiert, deren Kopf hohl und dadurch deutlich leichter als das bisherige Modell sei. "Wenn Tesla Potenzial in einer Innovation erkennt, stellt das Unternehmen alle Bestellungen zeitnah um und fordert eine schnelle Umsetzung beim Lieferanten", meint Wallmeier. Das habe sich positiv auf Kamax ausgewirkt. Das Unternehmen musste schneller werden, Angebote zügiger erstellen und die Serienfertigung für Innovationen schneller ausrollen.

Ähnlich sieht es beim Werkzeugspezialisten Wefa aus. Dieser hat für einen Auftrag im Zusammenhang mit Tesla in vier neue Maschinen für zwei Werke investiert. "Die neuen Maschinen sind präziser und schneller, das bringt uns auch für andere Produkte einen Vorteil", sagt Vertriebsleiter Rolf Beckert. Tesla suche neue Technologien und treibe die Zulieferer stark in diese Richtung.

Dabei unterscheidet sich die Auftragsvergabe von herkömmlichen Verfahren. Meistens schicken Mitarbeiter von Tesla den Zulieferern Anfragen zu gewünschten Bauteilen. Dabei fehlt jedoch die Spezifikation, mit der Autobauer normalerweise Eigenschaften wie Material oder Toleranzen vorgeben. Als Spezialisten sollen die Lieferanten diese selbst definieren. "Nun trifft man im Angebot selber die Annahmen und schreibt seinen Preis dazu", sagt Christian Walter, Vertriebsmanager beim Werkzeugbauer Siebenwurst. Dabei sei Tesla ein anspruchsvoller Kunde, der stets das Maximum verlange. "Was etablierte Autobauer in 36 Monaten machen, muss bei Tesla in der Hälfte der Zeit gehen - bei besseren Preisen für Geschwindigkeit", sagt Walter.

Vom Werk in Grünheide profitiert auch das Land Brandenburg. Steffen Kammradt, Geschäftsführer der dortigen Wirtschaftsförderung, spricht vom "Tesla-Zauber": "In rasender Geschwindigkeit entsteht gerade ein neuer Wirtschaftszweig rund um die Elektromobilität", sagt er. Die kanadische Firma Rock Tech Lithium plant derzeit den Bau des größten Lithiumwerks Europas in der Industrieregion Lausitz. Ab 2024 soll es Lithium für 500.000 Elektroautos weiterverarbeiten. Auch das US-Unternehmen Microvast hat seine Batteriefertigung in der Region angesiedelt, BASF stellt hier bald Kathodenmaterial her.

Kammrath kann noch weitere Unternehmen nennen. "2020 und 2021 haben wir mehr Investoren Angebote unterbreitet als im bisherigen Rekordjahr 2019. Das führen wir auch auf die Standortentscheidung von Tesla im November 2019 zurück", sagt er. Nach seiner Einschätzung ist Brandenburg auf dem Weg zu einer der ersten Regionen Europas, die die gesamte Wertschöpfungskette von Elektroautos abdeckt. "Dann haben die Experten des Prognos-Instituts recht: In Brandenburg wird die Autoindustrie neu erfunden", sagt Kammrath.

Tuscaloosa: Der Konter

Noch stehen die roten Kuka-Roboter still in der glänzenden neuen Halle am Rand von Tuscaloosa im US-Bundesstaat Alabama. Nur wenige Mitarbeiter arbeiten an der rund 300 Meter langen Fertigungslinie. Das blaue Tor am Ende der Fabrik, durch das schon bald die Einzelteile zur Montage angeliefert werden sollen, bleibt an diesem Dienstagvormittag noch geschlossen. Doch das wird sich ändern. Schon bald soll an den mehr als 70 Fertigungsstationen im Akkord gearbeitet werden. Das neue Werk, das Mercedes im Süden der USA hochgezogen hat, ist für die E-Revolution des Konzerns zentral wichtig. Dort werden bald aus mehr als 200

Einzelteilen die Batterien zusammengeschraubt, ohne die die Elektrifizierung des Straßenverkehrs ausfallen dürfte.

Es ist die erste Batteriefabrik des Autobauers in den USA - und ihr Ziel ist die Welt. Seit 25 Jahren produziert Mercedes in Alabama SUVs, rund 260.000 Autos rollten hier 2021 vom Band. Zwei Drittel davon wurden exportiert. Auch das neueste Modell, der voll elektrisierte EQS SUV, soll von hier aus den Planeten erobern - mit einer Batterie aus eigener Fertigung. "Wir werden die begehrenswertesten elektrischen Fahrzeuge der Welt bauen", verspricht Ola Källenius.

Der Mercedes-Chef steht auf einer Bühne am Rand der neuen Produktionshalle. Auf einer leuchtenden LED-Wand preisen kurze Einspielungen die Vorzüge des neuen Werks. CO2-neutral sei die Fertigung, der Kobalt-Gehalt der Batterie liege nur noch bei zehn Prozent. Am Rand der Bühne steht ein mit Abklebefolie verhülltes Exemplar des vermeintlichen Geländewagens der Zukunft - ein Häppchen für die rund 50 Gäste aus Medien und Politik.

Offiziell wird das EQS SUV-Modell im April vorgestellt. Es ist ein wichtiger Schritt für den Konzern, der ab 2025 keine neuen Baureihen mit Verbrennungsmotor mehr präsentieren will. Eine Schwächung der SUV-Sparte wäre für Mercedes nur schwer zu verkraften, schließlich machen die kompakten Geländewagen heute rund ein Drittel des weltweiten Angebots aus.

Die neue Batteriefabrik soll dafür sorgen, dass das auch so bleibt. Rund 600 Jobs werden entstehen, sechsstellig sei die Zahl der Batterien, die man hier pro Jahr herstellen könne, heißt es bei Mercedes. Mehr ins Detail will man nicht gehen, weist jedoch darauf hin, dass man durchaus mehr als die 260.000 Autos bauen könne, die im Rekordjahr 2021 in Tuscaloosa vom Band rollten.

Auch deshalb präsentierten die Deutschen am Rande der Werkseröffnung eine neue Partnerschaft: Der Batteriezellenhersteller Envision AESC wird 2025 zum Hauptlieferanten des Alabama-Werks. Envision AESC wird dafür wohl eine neue Fabrik errichten. Eine Entscheidung über den Standort ist noch nicht gefallen. Doch das Werk wird im Süden der USA stehen - so wie das neue Werk des neuen Erzrivalen Tesla. Das hat gerade in Austin im Bundesstaat Texas den Betrieb aufgenommen.

 

Seiwert, Martin 

Reimann, Annina 

Heißler, Julian

 

 

Quelle                                                                       wiwo.de vom 24.03.2022

Ressort                                                                     service

Branche (2005)                                                         TRA-05-05 P3711 Automobilindustrie

Dokumentnummer                                                    WW_28171756

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